Rezension: Der Musiklehrer-Coach

Rezension: Der Musiklehrer-Coach

Ursprünglich sollten den Lesern dieses Blogs Rezensionen erspart bleiben, stellen sie doch zu oft die (natürlich völlig zurecht formulierte) subjektive Sichtweise eines einzelnen Autors dar. Der Mehrwert solcher Pseudoliteraturkritik war für mich nicht ersichtlich. Die großen Buchportale im Internet bieten hierfür ein mehr als ausreichendes Forum und somit schien diese Ecke doch bedient genug.

In letzter Zeit erschienen allerdings einige Publikationen, die es wert sind, genauer beobachtet zu werden.

Fängt man erst einmal mit dem Rezensieren an, trifft man automatisch eine engere Wahl – in der Regel sind‘s ja die Favoriten, über die man schreibt. Und damit möchte ich jetzt auch mal anfangen.

Ob ich wirklich Zeit und Muße finden werden, dem Rezensieren einen eigenen Bereich im Blog beizumessen, wird sich zeigen, ebenso wie es abzuwarten bleibt, ob ich irgendwann mal meinen Traum erfülle und am Ende des Jahres eine Art „goldene Himbeere“ im Bereich musikpädagogischer Publikationen (bzw. bunte Hefte mit großer Schrift für Lehrer, die (auch) Musik unterrichten) zu verleihen – verdient hätten es ja einige …

Es freut mich besonders, dass ausgerechnet das neue Buch von Micaëla Grohé mir den Anlass gibt, doch ab jetzt mal ab und an über neue Veröffentlichungen zu schreiben, da ich bereits bei ihrem letzten Buch – Musik-Spiele – darüber nachdachte.

Der Musiklehrer-Coach“ heißt das dieser Tage bei Helbling erschienene und 216 Seiten starke Werk, das mit dem Untertitel „Professionelles Handeln in konflikthaften Unterrichtssituation“ versehen und um ein vielleicht ein wenig provokantes Cover ergänzt wurde: ein (geschätzt) siebtes/achtes Schuljahr sitzt völlig gelangweilt mit allerlei Instrumentarium und trötet und döngelt (oder auch nicht) – vorne eine äußerst motivierte Lehrerin Anfang dreißig, die die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben zu haben scheint …

Wie wird‘s diesem Buch ergehen? Traut man sich, es am Helbling-Stand auf einem Kongress zu kaufen – gibt man damit preis, dass man Probleme im Unterricht hat, dass einem der ganze Kram manchmal über den Kopf wächst, dass man neulich fast wegen der 7c geheult hat, dass es einen selbst nervt, wenn in der achten nur mit Gebrülle, Klassenbucheinträgen oder Rausschmeißen Ruhe einkehrt? Will man so viel von sich verraten, wenn man auf Fortbildungen hört, dass Friederike S. neulich „ein total super tolles Brahms-Projekt gemacht“, Josef K. „genau weiß, wie man welche Pappenheimer zu packen hat“ oder Svenja L. berichtet, dass „jetzt alle ein Instrument bei ihr lernen“ und man nur ergänzen mag: „Bei mir läuft derzeit echt alles aus‘m Ruder …“

Da bin ich jetzt froh, dass es das Internet gibt und man das Buch verstohlen, heimlich still und leise bestellen könnte, ohne dass man darüber reden müsste. Denn eines möge man in manchen (!) Haifischbecken Lehrerzimmern tunlichst unterlassen: (vermeintliche) Schwächen offenlegen.

So übernimmt Frau Grohé das jetzt einfach für uns. Neutral. Schlicht. Ohne Tamtam und vor allem ohne Klugscheißerei (ich genieße gerade die Rezension im eigenen Blog; kein Verlag hätte den letzten Satz durchgehen lassen …). Sie zeigt auf und regt zum Überlegen an. Wer sich darauf einlässt, dem schiebt sie noch was nach: kleine Beobachtungen, winzige Aufschreibaufgaben, Notizen, mal was zum Ankreuzen, mal was zum Ausfüllen. Das zieht sie durch, das verlangt sie ab, um nicht zu sagen: das mutet sie uns zu.

Wer dieses Buch kaufen möchte, in der Hoffnung unter „U“ den Punkt „Umgang mit Kevin“ zu finden, der wird enttäuscht. Wer Listen erwartet, in den zu genau aufgegliedert ist: „Stehen Sie aufrecht! Gehen Sie dann gezielt auf die Schülerin zu, behalten Sie die erste Reihe trotzdem im Blick …“ wird sich nicht richtig bedient fühlen.

Frau Grohé kennt sie, die Situationen, die Probleme bereiten.

Und gerade darin liegt in meinen Augen die Besonderheit dieses Buches. Natürlich weiß sie auch von den Dschastiehns und Schanntalls, sie unterrichtet in Berlin und nicht an einer einzügigen Dorfschule (wobei es auch hier, verzeiht, liebe Kollegen, zu massiven Schwierigkeiten kommen kann, das weiß ich!). Nichtsdestotrotz fordern die einzelnen Kapitel (der Titel verrät ja bereits, dass es hier um Coaching geht) Begegnung mit sich selbst, denn hier lässt sich (in erster Linie, massiv und vor allem effektiv) etwas ändern – nicht an Kindern, die man eine oder zwei Stunden vierzig Wochen lang mit mehr als 25 anderen unterrichtet.

Die Begegnung mit sich selbst ist bisweilen stellenweise vielleicht ein wenig ungewohnt, bringt aber mit Sicherheit gewünschte Erfolge. Und man begegnet nicht nur sich selbst sondern – quasi en passent – auch jeder Menge von Schülern, solchen die man derzeit noch unterrichtet, aber auch solchen, die man mal unterrichtet hat. Man lernt sie, sich aber auch die Situationen kennen, einschätzen, manches verstehen, aber auch, vieles „einfach gut“ sein zu lassen.

Von daher lehne ich mich mal richtig weit aus dem Fenster und behaupte: Wer dieses Buch durcharbeitet, wird sich als Lehrer und somit auch seinen Unterricht verändern.

Ich kann und werde es auch Nicht-Musiklehrern empfehlen, weil der Inhalt gewisser exemplarischer Unterrichtssituationen variabel und ein Fallbeispiel wie „Saskia geht zögernd an die Tafel, wo sie die Noten … zeigen soll …“ (S.133) identisch ist mit Situationen wie „Korbinian geht an die Karte, wo er den Kaukasus zeigen soll“, „Perpetua geht ans Periodensystem der Elemente, um Palladium zu suchen“ oder „Servatius geht ans Smartboard, wo er einen ergoogleten Stream im Intranet simuliert“ …

Frau Grohé kennt die kleinen und großen Baustellen des Alltags, die Situationen, die scheinbar immer wieder kehren, kennt Schüler, Kollegium und Schulleiter, genau so wie die Arbeit mit Eltern, die auch geübt werden will. Und sie kennt Wege. Überraschend viele.

Ein wenig Zeit muss man schon mitbringen. Vielleicht bietet es sich auch an, mit dem Buch – wie mit einem Coach auch – feste Termine zu vereinbaren, um wirklich dran zu bleiben.

Bestellen Sie sich am besten noch ein schönes Notizbuch dazu, eines, das sie gerne anfassen, ruhig auch ein etwas besseres und führen sie es parallel zum Buch – Sie brauchen eh ein paar Zettel. Somit wird der Gang zum Coach reeller, weil, wie beim Sport, eine kleine Tasche gepackt werden muss. Schreiben Sie dort dann auch die Punkte auf, die Sie im Buch mit einem wohlwollenden Lächeln („Das mach ich schon immer so“, „Das mache ich gut!“, „Das kann ich!“) quittiert haben – das zeigt Ihnen, was Sie schon erreicht haben!

Und wo wir bei Veränderung sind: Trauen Sie sich dennoch über Ihre Probleme offen zu sprechen. Natürlich gibt es pädagogische Naturtalente – ich habe schon einige gesehen – aber dass man das, was wir täglich leisten müssen auch lernen muss, ist doch selbstverständlich. Tauschen Sie sich aus. Und wenn Sie Zeit und Gelegenheit haben, besuchen Sie einen Workshop bei Micaëla Grohé, denn diese Erfahrung wird Sie berühren und wird Ihnen lange in Erinnerung bleiben.

Ich konnte einen solchen Kurs einmal besuchen – mit ca. 80 weiteren Kollegen (der Saal platzte aus allen Nähten), ein zweites Mal kam ich nicht mehr rein, weil es keinen Platz mehr gab. Es gibt wohl doch eine ganze Reihe Kollegen, die das auch interessiert, die das kennen, wenn‘s nicht richtig läuft …

Hinterher gab‘s dann regen, produktiven und auch sehr lustigen Austausch. Am Helbling-Stand. Ganz offensiv mit dem Buch in der Hand.